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Kalwensche Straße 25 und 27 (ehemalige Bojensche Straße 27 und 29)

 

Bojensche Straße 27 und 29 in den 1920er Jahren
Bojensche Straße 27 und 29 in den 1920er Jahren
Kalwensche Straße 25 und 27 im Jahr 2014
Kalwensche Straße 25 und 27 im Jahr 2014

 

Noch Mitte des 19. Jh. waren Bojensche Straße 25 und 27 (nicht mit der heutigen Kalwenschen Straße 27 zu verwechseln, zu der auch die ehemalige Bojensche Straße 29 gehört!) eine unbebaute Fläche – der damalige Heuschlag der Stadt Hasenpoth. Die 1797 im Stadtplan dargestellten Grenzen dieser Grundstücke entsprechen auch denen im Stadtplan von 1936.

Um ihre Schulden beim Arzt Johann Heinrich Blumenthal (1734-1804) abzusichern, hatte die Stadtverwaltung den erwähnten Heuschlag an die Erben des Arztes verpfändet. Die Erben hatten ihr Pfandrecht an Emil von Lieven (1813-1881), den Gutsherrn von Neu-Laschen, abgetreten. Am 21. August 1853 schloss die Stadtkämmerei mit Lieven einen Vertrag zur Grundstücksübertragung. Vom Heuschlag neben der Liegenschaft des Müllers Dietrich Müller (Kalwensche Straße 23) wurde ein Teilstück (die damalige Bojensche Straße 29) für den Bau des Stadtkrankenhauses abgetrennt. Für dieses Grundstück zahlte die Stadtkämmerei Lieven kein Entgeld. Im Gegenzug erhielt der restliche Teil des Heuschlags den Status eines selbständigen Grundstücks (damals Bojensche Straße 27), wofür Lieven der Stadt jährlich Grundsteuer in Höhe von 6 Silberrubel zu entrichten hatte.

Die Stadtkämmerei verpflichtete sich gleichzeitig, den Fußweg frei zu halten: der führte von der Mitauschen Straße, am Grundstück von Müller entlang, durch den Heuschlag, zur Bojenschen Straße. Älteren Hasenpothern ist er bekannt als Cūku ieliņa (Schweinegässchen), heutige amtliche Bezeichnung Kurzemes iela (Kurländische Straße). Im deutschen Volksmund wurde diese Verbindung damals auch Galoschenweg genannt, weil man ohne entsprechendes Schuhwerk (Galoschen / Überschuhe) den Weg nicht nutzen konnte. Durch diesen festen Fußweg sollte vermieden werden, dass Trampelpfade durch Lievens Felder und Heuschläge gebahnt würden und so Schäden entstehen könnten.

Am 20. November 1858 verkaufte Emil von Lieven, Gutsherr von Neu-Laschen (Jaunlažas) und Korallen (Kurele), dem Müllermeister Hermann Ludwig Neumann das 2 1/3 Lofstellen große Grundstück Bojensche Straße 27 zwischen dem neu eingerichteten Armenhaus (Kalwensche Straße 25) und dem stadteigenen früheren Lazarett (Bojensche Straße 29). Nicht später als bis zum Martins-Tag 1859 sollte der Käufer hier eine Mühle errichten. Die Kaufsumme war 200 Rubel. Dafür aber sollte der Käufer auch noch jährlich bis 500 Pūrs (1 Pūrs = 68,9 Liter) Getreide von Lievens Gutshöfen mahlen.

1864 beerbten seine Ehefrau und seine Kinder den Müller Neumann. Laut Vertrag von 1864 übernahm Sohn Christoph Neumann die Mühle und deren Betrieb. Von ihm kauften am 27. September 1902 seine Miteigentümer – Gertrud Lindenberg und Ludolf Mühlhausen das 0,86 ha große Grundstück, das er im Pfandbesitz hatte und das sich innerhalb der Stadtgrenzen befand, mit allen darauf befindlichen Gebäuden und Zubehör, einschließlich Waage und Bestandteilen der Windmühle (большой баланс ветряной мельницы) für 6.000 Rubel. Im Jahr 1907 kaufte Frau Lindenberg auch den Anteil von Ludolf Mühlhausen. Daran ist erkennbar, dass die Kartonagenfabrik von Gertrud Lindenberg, die auf dem Foto zu sehen ist, nicht früher als 1903 gebaut worden ist. Die älteste Nachricht über die Arbeit dieser Fabrik, die man gefunden hat, ist ein Formular in russischer Sprache, das mit Februar 1904 datiert ist:

 

Gertrud Lindenbergs Dampf betriebene Kartonagenfabrik Hasenpoth
Herstellung von Papierwaren für Apotheken
Druckerei und Maschinenbaufabrik

 

Hier wird deutlich, dass die weit verbreitete Auffassung, die Kartonagenfabrik von Gertrud Lindenberg befinde sich hier seit 1890, fehlerhaft ist. Genauso fehlerhaft ist auch die Auffassung, die Kartonagenfabrik von Gertrud Lindenberg sei 1890 gegründet worden, obwohl man diese Jahreszahl nicht nur in Ihrer Werbung und auf Formularen findet, sondern auch in den Angaben zu industriellen Objekten im russischen Reich. Doch so eine Fabrik wird weder in den offiziellen Veröffentlichungen des Reiches über die letzten 10 Jahre des 19. Jahrhunderts, noch in Berichten der Stadtverwaltung Hasenpoth über die Zeit bis 1904 erwähnt. Es gab sie weder in Hasenpoth noch sonst irgendwo.

Es muß aber betont werden, dass Gertrud Lindenberg eine bewundernswert engagierte Frau gewesen ist. Sie wusste nicht nur, was sie erreichen wollte, sondern hatte auch klare Strategien und Taktiken, an ihre Ziele zu gelangen.

Als 1896 der in Mitau geborene 39-jährige Kaufmannssohn Provisor Johann Friedrich Lindenberg die Leitung der Lichtensteinschen Apotheke in Hasenpoth übernahm, war seine in Dorpat geborene Ehefrau Gertrud Wilhelmine erst 26 Jahre alt. Als Lindenberg 2 Jahre später ernsthaft erkrankte und an einer Lungenentzündung starb, hinterließ er die 28-jährige Witwe mit 2 minderjährigen Kindern – der ältere Sohn war 3 1/2 Jahre und der jüngere 6 Monate alt. An finanziellen Mitteln fehlte es ihr wohl nicht, aber die waren nicht unerschöpflich. So war sie gezwungen, zu überlegen, wie diese Gewinn bringend anzulegen wären. Während der 2 in Hasenpoth zugebrachten Jahre hatten die Lindenbergs wahrscheinlich die aktivsten Mitbürger der deutschsprachigen Gesellschaft dieser kleinen Stadt kennengelernt. Unter ihnen war auch der Eigentümer der Druckerei, der zünftige Buchbinder Ludolf Mühlhausen, der auf der anderen Straßenseite nicht weit von den Lindenbergs entfernt wohnte. Er hatte die Genehmigung zur Gründung seiner Druckerei am 28. Dezember 1890 bekommen, so konnte der Betrieb die Arbeit im Jahr 1891 aufnehmen. Seine Kartonagenfabrik (in seiner Druckerei), in der er 3 minderjährige Jungen und 12 minderjährige Mädchen beschäftigte, betrieb er erst ab 1893.

Als Gertrud Lindenberg 1898 Witwe wurde, hatte Mühlhausen in der heutigen Atmodas Straße 21 seine Buchdruckerei, dazu einen Laden mit Büchern und Schreibwaren und außerdem die Fabrik, in der Kartonagen und Papierwaren für Apotheken erzeugt wurden. (Druckerei und Fabrik waren vermutlich in einem der Hofgebäude). Die verkaufte er im Jahr 1900 an Johannes Dörmann. Der richtete die ehemals Mühlhausensche Fabrik auf seinem Grundstück Goldinger Straße 15 ein, das er in demselben Jahr von der Hasenpothschen Sparkasse gekauft hatte.

Im Bericht des Hasenpothschen Stadtarztes Haller vom Jahr 1901 über die allgemeine sanitäre Lage in den Reichsstädten gibt es auch ein Kapitel über Fabriken. In dem schreibt Haller, dass es in Hasenpoth nur eine kleine Kartonagenfabrik und eine Gerberei gibt. Und diese kleine Fabrik verkaufte Dohrmann im März 1903 (es ist möglich, dass der Kaufvertrag schon 1902 geschlossen wurde und erst 1903 ins Grundbuch eingetragen) an Gertrud Lindenberg für 6.000 Rubel. Und so gehörten nun Gertrud Lindenberg die Druckerei, die Kartonagenfabrik und die Reparaturwerkstatt für Maschinen. In ihrem Unternehmen beschäftigte sie zwei ,,Prikazčiki” (Verwalter) I. Ordnung: Friedrich Bennson und Ludolf Mühlhausen.

Der Name Gertrud Lindenberg wird erstmals genannt in dem in Mitau (Jelgava) 1904 herausgegebenen Bericht «Вся Курляндская Губерния» ,,Das ganze Kurländische Gouvernement”. Im Kapitel über Fabriken in Kurland wird erwähnt, dass es in Hasenpoth eine Kartonagenfabrik gibt, die mit Petroleummotor angetrieben wird. Eigentümerin: Gertrud Lindenberg, Beschäftigte: 9 Männer, 20 Frauen und 12 Kinder. Außerdem hat sie auch eine Typo-Lithographie. Vermutlich beziehen sich diese 1904 veröffentlichten Angaben auf das Jahr 1903 und die alte Fabrikanlage in der Goldinger Straße 15.

Damit wird deutlich, dass Lindenberg das Jahr 1890 als das Gründungsjahr ihrer Fabrik von Mühlhausen übernommen hat, um Werbung für ihre Fabrik, als Unternehmen mit einer langjährigen Erfahrung zu machen, obwohl Lindenberg selbst mit dieser Jahreszahl nichts zu tun hatte. Die Betriebsgenehmigung für ihre alte Fabrik, die ältere Hasenpother "vecais Pabrīķis" (altes Papierfabrikchen) nannten, in der Goldinger Straße bekam Lindenberg am 31. Dezember 1902.

In dem 1909 in Petersburg herausgegebenen Buch «Фабрично-Заводскiя Предпрiятiя Россiйской Имперiи» (Fabrik- und Betriebsunternehmen im Russischen Reich) wird erwähnt, dass L. Mühlhausen der Verwalter der 1890 gegründeten Kartonagenfabrik von G. Lindenberg ist. In der Fabrik werden 150 Arbeiter beschäftigt, die Kartonagen für Apotheken herstellen.

Die G. Lindenberg gehörende Kartonagenfabrik, deren Verwalter Ludolf Mühlhausen ist, wird auch im Protokoll des Jahres 1909 der Hasenpothschen Handelskammer erwähnt. Dort erfährt man, dass es in der Fabrik 120 und in der Typographie 10 Mitarbeiter gibt.

1912 waren in der Kartonagenfabrik 61 männliche Personen im Alter von 13 bis 73 Jahren beschäftigt.

1916 bestellt das deutsche Friedensgericht in Libau Friedrich Bennson zum Kurator der Kartonagenfabrik für die abwesende Gertrud Lindenberg. Die Fabrik bestand aus einem massiven Backsteingebäude und noch 2 hölzernen Bauten. In der Fabrik waren 6 Werkshallen, 2 Büroräume, 3 Zimmer zu Wohnzwecken und 1 Lager. Nach Informationen, die dem Friedensgericht zur Verfügung stehen, arbeitet die Fabrik nicht.

Am 25. August 1917 wurde der Stadtverwaltung eine von Bennson unterzeichnete Rechnung der Kartonagenfabrik über die Fertigung von 2.400 Brotkärtchen zugestellt.

Im Februar 1920 war L. Mühlhausen Verwalter der Fabrik.

1924 gibt Gertrud Lindenberg bekannt: "Ich habe meine Buchbinderei wieder wie in Friedenszeiten geöffnet."

1932 besaß Lindenberg die Kartonagenfabrik, das Sägewerk, die Dampfmühle, die Färberei, die Walkmühle und die Druckerpresse. Nach Angaben aus dem Jahr 1932 des Libau-Hasenpothschen Kreises hat die Fabrik von Gertrud Lindenberg folgende Sparten: Mühle, Kartonagen, Etiketten, Druckerei, Papierartikel, Motor, Schlosserei, Sägewerk und Färberei.

1934 waren in der Fabrik 19 Werkhallen und eine Fünfzimmerwohnung.

1937 waren es schon ein zweistöckiges Backsteinhaus mit Anbauten für die Fabrikhallen, ein eingeschossiger Ziegelbau als Wohnhaus, 2 eingeschossige hölzerne Wohnhäuser und ein eingeschossiger hölzerner Schuppen.

Auf den dekorativen Geschäftsbriefen, die die Fabrik in den 30er Jahren benutzte und die in Offsetdruck in der Druckerei G. Lindenberg, Lettland hergestellt waren, steht folgender Name der Fabrik: „Fabrik für Apotheken-Kartonagen Gertrud Lindenberg, Hasenpoth, Lettland”. Auf dem Formular wird nur die Telefonnummer in Hasenpoth bekanntgegeben. Lagerräume und Büros waren in Riga, Marstallstraße 8-4. 1936 verkaufte Gertrud Lindenberg die Rigaer Niederlassung der Fabrik Marstallstraße 15-1 ihrem Sohn Wilhelm Karl Konstantin Lindenberg für 8.000 Lat.

In den 1930er Jahren exportierte die Fabrik ihre Kartonagenartikel nach Litauen. Sie belieferte Kunden in Kaunas, Klaipėda (Memel), Kretinga, Kedainiai, Marijampol, Mažeikiai, Palanga, Panevežys, und in Šiauliai.

Am 20. Dezember 1938 kaufte Lindenberg für 120 Lat das Grundstück, auf dem sich ihr Unternehmen befand, welches aber bis dahin der Stadt gehörte und wurde so vollberechtigte Eigentümerin dieser Liegenschaft. Aber schon zwei Tage später verkaufte sie es für 42.000 Lat der lettischen Kreditbank. Da sie aber Schulden hatte, bekam sie nur 4.219,08 Lat bar. So wurde die Kreditbank nicht nur Verwalterin des Unternehmens, sondern auch deren Eigentümerin. Vor diesem Geschäft hatte die lettische Hypothekenbank mittels Gutachten den Verkehrswert der Liegenschaft mit 70.000 Lat ermittelt.

Am 23. Dezember 1938 stellte der neue Arbeitgeber "Hasenpothsche Kartonagenfabrik der lettischen Kreditbank" den bisherigen Leiter der Fabrik, Gertrud Lindenbergs jüngeren Sohn Wilhelm Lindenberg, als neuen technischen Leiter der Fabrik an. Der Arbeitgeber zahlte 250 Lat Monatslohn, die Wohnung in der Fabrik, den Stromverbrauch, und lieferte kostenlos jährlich 2 Kubikfaden Brennholz zum Heizen.

Am 17. Oktober 1939 wurde er mit Rechnungsabschluss entlassen und siedelte am 14. November mit Ehefrau und beiden Töchtern nach Deutschland um.

Gertrud Wilhelmine Lindenberg, die mit ihrem ältesten Sohn Janis (Johannes) Hugo Wilhelm Lindenberg in ihrem Landhaus "Kalngali" (Bergspitzen) in Hasenpoth wohnte und wirtschaftete, nahm zusammen mit ihrem Sohn und dem 5-jährigen Enkel Nikolai genau einen Monat später an der Umsiedlung teil.

In den Jahren der deutschen Okkupation hieß die Fabrik "Ostland-Faser-Gesellschaft m. b. H. Kartonagenfabrik Hasenpoth." Die Fabrik leitete Reinis Krastiņš - der Direktor der Libauer Papierfabrik. 1946 wurde der Fabrikname noch länger: "Hasenpothsche Kartonagenfabrik Nr. 7 der Verwaltung für Zellulose- und Papierindustrie bei TKP (Sowjet der Volkskommissaren - Tautas Komisaru Padome) der LSSR (Lettische Sozialistische Sowjetrepublik)." Die Fabrik arbeitete wieder nach dem 15. Mai 1945.

Heute ist das Gebäude der ehemaligen Lindenbergschen Fabrik Eigentum der "A/S Kurzemes atslega 1" ("Kurlands-Schlüssel 1") und wird nicht mehr als Fabrik genutzt.

 

 

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